Selbsteinschätzung und Selbstreflexion fördern:
Selbsteinschätzung als eine Grundlage differenzierenden Unterrichts
Differenzierung ist im Unterricht meist nur praktikabel, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst aus den bereitgestellten Möglichkeiten auswählen. Dabei zeigt sich im Unterrichtsalltag allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler anfangs oft überfordert sind. Sie müssen erst lernen, sich richtig einzuschätzen und eine darauf begründete Auswahl zu treffen, um langfristig in der Lage zu sein, ihr Lernen selbst zu steuern und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Kompetenzraster, Checklisten und Lerntagebücher bieten Möglichkeiten, sie an diese Fähigkeit heranzuführen.
Kompetenzraster[1]
Kompetenzraster sollen den Schülerinnen und Schülern bewusst machen, welche Kompetenzen sie in einem Fach über einen bestimmten Zeitraum (z. B. eine Unterrichtseinheit, ein Halb- oder ein Schuljahr) hinweg erwerben sollen und wo sie aktuell in ihren Leistungen stehen. Dabei werden die entsprechenden Kompetenzen in Form von „Ich kann...“-Sätzen für alle Lernenden verständlich formuliert und in Form einer Matrix (Tabelle) angeordnet. In der Vertikalen werden die Inhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten nach Lernbereichen sortiert angegeben (für das Fach Deutsch z. B. Sprechen und Zuhören, Schreiben, Lesen- mit Texten und Medien umgehen, Sprache und Sprachgebrauch untersuchen); in der Horizontalen stehen verschiedene Niveaustufen (üblicherweise 3 – 6), auf denen der Lernende etwas gelernt hat, und die für die unterschiedlichen Niveaus notwendigen Anforderungen.
Alle Lernenden erhalten ihr eigenes Exemplar des Kompetenzrasters. Zu jedem Feld der Matrix, d. h. zu jedem Fachinhalt auf jedem Niveau, werden ihnen Aufgaben zur Verfügung gestellt, die ihnen im Klassenraum frei zugänglich sind und an denen sie nach individuellem Programm und in eigener Regie arbeiten. Sie dokumentieren die Ergebnisse ihres Tuns in einer Mappe oder in einem Fachportfolio und markieren den erreichten Lernstand durch einen Klebepunkt auf dem entsprechenden Feld ihres Kompetenzrasters. Dabei ist es praktisch, das Kompetenzraster doppelseitig zu kopieren; so bleibt auf der einen Seite der komplette Text lesbar und wird nicht durch Klebepunkte verdeckt.
Erfahrungsbericht: „Die Sache mit den Klebepunkten fand ich auch verlockend und attraktiv. Ich habe dennoch sehr schnell darauf verzichtet, weil viele Punkte gebraucht werden. Ich lasse die Schülerinnen und Schüler einen farbigen Punkt mit einem Malstift zeichnen. So können sie die Größe des Punktes an den vorhandenen Platz anpassen und ich muss das Arbeitsblatt auch nicht doppelseitig kopieren.“ (Französischlehrerin an einer RS +)
Der aktuelle Lernstand ist somit jederzeit sowohl für den Lernenden und Eltern als auch für den Lehrenden einsehbar und kann zusammen mit der Dokumentation als Grundlage eines Gesprächs mit einem Lerncoach (dem Lehrer oder einem Mitschüler) dienen. Dadurch, dass der Lernende genau ablesen kann, was auf der nächsten Niveaustufe von ihm verlangt wird, entstehen Transparenz und Orientierung. Er wird auch durch die „Ich kann...“-Sätze positiv verstärkt und für das Weiterlernen motiviert. Lehrenden bieten Kompetenzraster die Möglichkeit, den Unterricht schülerorientiert zu planen und Lernergebnisse richtig einzuordnen.
In ungeübten Lerngruppen ist es sinnvoll, als Lehrkraft in einem Gespräch gemeinsam mit dem Lernenden zu beraten, wo seine Ergebnisse im Kompetenzraster zu verorten sind und welche Kompetenzen in Zukunft trainiert werden sollten. Darüber hinaus bietet es sich an, die Kompetenzraster durch Checklisten/Selbstdiagnosebögen zu konkretisieren.
Unterrichtsbeispiele
Die folgenden Unterrichtsbeispiele haben exemplarischen Charakter und lassen sich auf andere Fächer, Themen und Jahrgangsstufen übertragen.
Methode/Vorgehensweise | Fach | Unterrichtsthema | Download |
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Kompetenzraster | Französisch | Lektion aus Lehrwerk | F Kompetenzraster |
Selbstdiagnosebogen/Checkliste
In einer Checkliste bzw. einem Selbstdiagnosebogen wird beschrieben, was unter den „Ich kann...“-Formulierungen des Kompetenzrasters genau zu verstehen ist. Dies entspricht einer Operationalisierung der dort gesetzten Standards bzw. Ziele. Sie sind in ihrer Anlage nicht nur konkreter als ein Kompetenzraster, sondern beziehen sich in der Regel auch auf eine kürzere, leichter überschaubare Lerneinheit.
In Checklisten oder Selbstdiagnosebögen können Schülerinnen und Schüler angeben, wieweit sie die angegebenen Kompetenzen beherrschen. Es ist hilfreich, wenn auch noch Aufgaben zur Überprüfung angegeben und Lösungen bereitgestellt werden.
Solche Listen kann man in verschiedenen Phasen des Unterrichts nutzen: Wenn man sie schon zu Beginn einsetzt, können insbesondere leistungsstarke Schülerinnen und Schüler überprüfen, welche Aufgabentypen sie schon beherrschen. Sie könnten dann die dadurch gewonnene Zeit für andere Aktivitäten nutzen. Meist werden Checklisten/Selbstdiagnose-bögen aber gegen Ende der Unterrichtseinheit zur Vorbereitung auf die Klassenarbeit eingesetzt. Auf diese Weise können die Schülerinnen und Schüler selbst feststellen, was sie noch nicht können, und dann genau das üben. Als nächster Schritt würde sich ein differenzierendes Lernarrangement anbieten, in dem mögliche Übungsaufgaben und deren Lösungen bereitgestellt werden (z. B. in Form einer Lerntheke oder einfach mit Hilfe einer Liste von Aufgaben aus dem Lehrbuch).
Erfahrungsbericht
„Checklisten lassen sich am Anfang eines Schuljahres als Start zu einer kleinen Wiederholungsphase einsetzen. Dadurch ergibt sich die Chance für die Schülerinnen und Schüler individuelle Probleme zu beseitigen, noch bevor sie überhaupt etwas Neues lernen, und für verankertes Grund- bzw. Vorwissen zu sorgen. Schülerinnen und Schüler, die viele Probleme haben, können angeleitet werden, den Schwerpunkt auf einige für die neuen Themen unabdingbare Kompetenzen zu legen und die Aufhebung der restlichen Defizite auf einen späteren Zeitpunkt zu verlagern. Am Ende der Wiederholungsphase kann erneut anhand einer benoteten oder unbenoteten schriftlichen Überprüfung festgestellt werden, inwieweit Fortschritte gemacht wurden.“ (Mathematiklehrerin an einem Gymnasium)
Unterrichtsbeispiele
Die folgenden Unterrichtsbeispiele haben exemplarischen Charakter und lassen sich auf andere Fächer, Themen und Jahrgangsstufen übertragen.
Methode/Vorgehensweise | Fach | Unterrichtsthema | Download |
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Checkliste mit Aufgaben zum Überprüfen und Üben | Mathematik | Termumformungen | Checkliste M Termumformungen |
differenzierte Checkliste mit "ich kann"-Formulierungen | Mathematik | Wurzeln | Checkliste M Wurzeln |
Lerntagebuch
Dienen Kompetenzraster und Checklisten/Selbstdiagnosebögen dazu, die Lernenden vor und während des Lernprozesses zur Selbsteinschätzung ihres (fachlichen) Kompetenzerwerbs anzuleiten, sind Lerntagebücher ein Mittel zur nachträglichen Reflexion über das eigene Lernen und dessen Ergebnisse.
Im Lerntagebuch dokumentiert jeder Lernende schriftlich, wie er Lernaufgaben für ein bestimmtes Fach bearbeitet hat, wo er Schwierigkeiten hatte, was ihm leicht gefallen ist und wo er evtl. noch Unterstützung benötigt. Dabei können einige der folgenden oder ähnliche Fragen als Anhaltspunkte dienen:
Fragen, die auf die Reflexion des fachlichen und methodischen Lernprozesses zielen:
· Was habe ich heute gelernt?
· Wie gut habe ich es gelernt?
· Warum habe ich es so gut (oder weniger gut) gelernt? Was waren die Gründe hierfür?
· Was habe ich am liebsten gemacht?
· Was fand ich schwierig, was fiel mir leicht?
· Was ist mir gut gelungen?
Fragen, die auf die Reflexion des Arbeits- und Sozialverhaltens zielen:
· Wie richtig war meine Planung?
· Wie gut habe ich erreicht, was ich mir vorgenommen hatte?
· Wie empfand ich die Lernatmosphäre?
· Wie stark habe ich mich für mein Lernen engagiert?
· Welche Lernfortschritte habe ich gemacht?
Fragen, die auf das künftige Lernen zielen:
· Was würde ich beim nächsten Mal ändern?
· Welche Hilfen brauche ich?
· Wie werde ich weiterarbeiten?
· Was will ich als Nächstes üben?
Das Lerntagebuch ist üblicherweise ein Heft (oder ein Schnellhefter), das von den Schülerinnen und Schülern individuell geführt und gestaltet wird. Je nach Lerngruppe und Zielsetzung kann die Lehrkraft ihnen Vordrucke an die Hand geben, Leitfragen an die Tafel schreiben oder bei der Einführung des Lerntagebuchs gemeinsam mit den Lernenden ein Merkblatt mit Kategorien und Leitfragen erarbeiten, wobei es sich bewährt hat, die drei Kategorien Inhalt, Planung des Arbeitsprozesses und Reflexion zu berücksichtigen. Ungeübten oder weniger selbständigen Lernenden kann man ferner folgende Fragen zur Kategorie Inhalt an die Hand geben:
· Datum: Wann habe ich die Eintragung gemacht?
· Thema: Womit habe ich mich im Unterricht befasst?
· Auftrag oder Aufgabe: Worum ging es in dieser Stunde? Was war für mich neu?
· Orientierung: Wo kann ich das Gelernte anwenden?
· Spuren: Welchen Weg beschreite ich bei der Lösung des Auftrags/der Aufgabe? Wie bin ich damit umgegangen, wenn Schwierigkeiten aufgetreten sind?
· Rückblick: Was ist noch offen?
· Rückmeldung: Wer kann mir weiterhelfen?
Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler regelmäßig (z. B. am Ende jeder Stunde, jedes Lernschrittes oder jedes Tages) etwa fünf Minuten Zeit erhalten, um ihre Überlegungen aufzuschreiben. Außerdem ist zu beachten, dass das Tagebuch ausschließlich vom Lernenden geführt wird und seine Inhalte grundsätzlich vertraulich sind. Ob es als Grundlage für regelmäßige, festgesetzte Gespräche mit einem Lerncoach (in der Regel die den Lernprozess betreuende Lehrkraft) dient oder von der Lehrkraft nur auf ausdrücklichen Wunsch des Lernenden gelesen wird, sollte im Vorfeld gemeinsam vereinbart werden.
Durch Einsatz eines Lerntagebuchs werden die Schülerinnen und Schüler somit veranlasst, über angewandte Lernstrategien zu reflektieren, diese zu bewerten und Konsequenzen für zukünftige Lernsituationen zu ziehen.
Unterrichtsbeispiele
Die folgenden Unterrichtsbeispiele haben exemplarischen Charakter und lassen sich auf andere Fächer, Themen und Jahrgangsstufen übertragen.
Methode/Vorgehensweise | Fach | Unterrichtsthema | Download |
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Reflexionsbogen nach dem Erstellen eines Lernproduktes | überfachlich | Reflexionsbogen Lernprodukt |
Verwendete Literatur:
Paradies, Liane; Wester, Franz; Greving, Johannes: Individualisieren im Unterricht – Erfolgreich Kompetenzen vermitteln. Berlin: Cornelsen Scriptor 2010, S. 39 ff
Weschenfelder, Björn: Selbstgesteuertes Lernen fördern. Was Lerntagebücher leisten. In: Individuell, vielfältig, besonders. Anregungen und Hilfen für den Umgang mit Heterogenität in der Schule. Speyer: Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz/Seelze: Friedrich Verlag [ohne Jahresangabe], S. 26-28
von der Groeben, Annemarie: Verschiedenheit nutzen. Besser lernen in heterogenen Gruppen. Berlin: Cornelsen Scriptor 2008, S. 157-160
bildungsserver.berlin-brandenburg.de/2831.html (Zugriff am 3.1.2015)
Müller, Andreas: Lernen ist eine Dauerbaustelle. Referenzieren – ein Ausweg aus dem Noten-Dilemma. (online-Zugriff auf die pdf am 3.1.2015)
Martin, Christian: Kompetenzraster aus dem schweizerischen Institut Beatenberg – eine Option für berufliche Schulen in Deutschland? http://www.bwpat.de/ausgabe13/martin_bwpat13.pdf (Zugriff am 3.1.2015)
[1] Beispiele für Kompetenzraster findet man auf der Homepage des schweizerischen Instituts Beatenberg: www.institut-beatenberg.ch